Der Weg in die Hauptstadt Warschau ist nicht gerade um die Ecke, es sind mehr als 300 Kilometer. Nakło nad Notecią (deutsch: Nakel an der Netze) ist ein Städtchen mit heute über 30.000 Einwohnern und mit einem kleinen, idyllischen Markplatz.

Hier kommt Rafał Blechacz im Juni 1985 zur Welt, hier verbringt er seine ersten Jahre, mit Eltern und Schwester. „Es gibt und Ruhe und Konzentration im Überfluss.“ Rund vierzig Autominuten sind es bis Bydgoszcz, der nächsten größeren Stadt. Dort beginnt Blechacz sein Studium, besucht die Artur-Rubinstein-Musikschule. Schlagartig bekannt wird er im Jahr 2005, als er den Chopin-Wettbewerb in Warschau gewinnt. Erneut ein Pole. Wie vor ihm nur Adam Harasiewicz 1955 und Krystian Zimerman 1975. Ein Erbe mit Verantwortung also.

Mit Zimerman entsteht Blechacz ein enger Austausch: „Wenn ich ihn treffe, dann tun wir nichts anderes, als über die Noten zu reden und darüber, wie man den eigenen Sinn, den man aus ihnen liest, technisch am besten umsetzt“, gestand Blechacz einmal. Schon an dieser Aussage erkennt man: Es sind zwei ähnlich denkende Künstler, die sich mit einem auf Events getrimmten Betrieb nicht identifizieren wollen, die mit Eitelkeiten, wie sie manche Möchtegern-Stars zu Markte tragen, nichts anfangen können und denen die Konzentration aufs Eigentliche am wichtigsten ist: die Musik.

Bis heute lehnt Rafał Blechacz es ab, sich dem Konzertleben bedingungslos auszuliefern, auch das analog zu Krystian Zimerman. Rund 40 Konzert pro Jahr gibt er, mehr möglichst nicht. Flugzeuge mag er kaum, und deswegen trifft man ihn fast ausschließlich auf Europas Konzertbühnen an. Meist fährt er mit dem Auto, wie Krystian Zimerman, nur dass dieser noch seinen eigenen Flügel hinten im Anhänger mitbugsiert. Auch zeigt Blechacz keinerlei Ambitionen, möglichst viele Aufnahmen zu veröffentlichen. Nur wenn er den Zeitpunkt für reif hält, geht er ins Aufnahmestudio. Mit Glück erscheint im Durchschnitt alle zwei Jahre ein neues Album. Behutsam erkundet Blechacz neue Repertoire-Zonen. Schubert? In sanften Schritten. Beethoven? In homöopathischer Dosierung. Doch was immer er auswählt: Sein Spiel lebt vor Feinheiten und von einem sehr genauen Gespür für Verläufe und Schattierungen.

Blechacz gibt sich gern ein wenig scheu, im Gespräch weit mehr als an seinem Instrument: „Lieber als ein Interview wäre mir, auf Ihre Fragen mit Musik zu antworten“, lässt er einmal sein Journalisten-Gegenüber wissen. Hören wir ihm also lieber zu. Etwa wenn er Chopin spielt. Nie kitzelt er etwas Salonhaftes aus dieser Musik, bei ihm klingt diese Musik nicht nach Kuschel-Poesie. Blechacz zeigt ihre gefährdete Eleganz, ihre Ecken und Kanten auf engstem Raum. Wo manche seiner Kollegen Chopin mithilfe des Pedals zu erklären versuchen, übt Blechacz mit dem rechten Fuß Zurückhaltung. Daher klingt sein Chopin oft erfreulich unwattiert, dafür flirrend und, wenn geboten, auch aufbrausend und trocken. „Chopin ist für mich eine Art Lebensgefährte geworden“, gibt er heute zu. „In seiner Musik bin ich ganz bei mir selbst.“