Berios Twice upon… war bis vor kurzem nahezu unbekannt. Angeregt wurde das Werk zu Beginn der 1990er Jahre von dem englischen Musikvermittler Richard McNicol, der dem Education-Programm des Klavier-Festivals Ruhr seit vielen Jahren eng verbunden ist.
Im Jahr 1993 erhielt der italienische Avantgarde-Komponist Luciano Berio (1925–2003) eine überraschende Anfrage: Zur Feier seines bevorstehenden 70. Geburtstags bat ihn das Londoner South Bank Center um ein neues Werk. Komponieren sollte der Schöpfer hochvirtuoser Instrumental- und Vokalmusik diesmal jedoch kein komplexes Orchester-, Ensemble- oder Solostück. Gewünscht wurde vielmehr ein „Werk“, das Kindern ohne besondere musikalische Vorkenntnisse ermöglicht, mit professionellen Musiker*innen kollegial zusammenzuarbeiten und gemeinsam mit ihnen auf der Bühne zu stehen. Die treibende Kraft hinter dieser Idee war der englische Musikvermittler und Flötist Richard McNicol. Er hatte seit den späten 1970er Jahren zahlreiche partizipative Musikprojekte durchgeführt und sich gemeinsam mit anderen erfolgreich dafür eingesetzt, dass das Erfinden von Musik und der praktische Umgang mit ihr 1992 zu einem festen Bestandteil des britischen Schulcurriculums wurde.
Berios erste Reaktion auf den ungewöhnlichen Kompositionsauftrag war freundliches Interesse, gepaart mit einer gewissen Skepsis. Doch die anfängliche Zurückhaltung schlug in Begeisterung um, nachdem er Filmaufnahmen aus der kreativen Projektarbeit mit Schüler*innen ohne instrumentale Vorkenntnisse gesehen hatte. Angeregt von der Spontanität und dem Enthusiasmus der Kinder komponierte er Twice Upon… Theater without words for six groups of children. Am 29. April 1994 wurde das knapp 25-minütige Werk von Schüler*innen aus sechs verschiedenen Londoner Schulen und Mitgliedern des Hallé-Orchesters im Foyer der Royal Festival Hall uraufgeführt.
Der musikalische Kosmos Luciano Berios ist geprägt durch enorme Sprach- und Ausdrucksvielfalt sowie durch ein besonderes Interesse des Komponisten für die gestischen und theatralischen Qualitäten von Musik. Die gilt nicht nur für seine musiktheatralischen Werke, sondern auch für seine Instrumental- und Vokalmusik. Man denke etwa an die etwa an die atemberaubende Vokalkomposition Sequenza III, in der eine Sängerin demonstriert, was sich alles mit der menschlichen Stimme machen und ausdrücken lässt. Oder an Sequenza V, einer Hommage an den berühmten Clown Grock, in der der Posaunist vor der Herausforderung steht, gleichzeitig zu singen und zu spielen und dabei auch noch zum Schauspieler zu werden.
Zur Aufführung dieser und anderer Werke standen Berio normalerweise hochspezialisierte Musiker*innen zur Verfügung. Im Falle von Twice upon… war die Ausgangssituation dagegen eine völlig andere. So sah sich Berio mit der Herausforderung konfrontiert, einen Weg zu finden, der ihm ermöglichte, seine künstlerischen Ideen so zu gestalten, dass sie von einem äußerst heterogenen Ensemble verwirklicht werden können. Seine Antwort auf dieses Problem ist eine kluge Aufteilung der Akteur*innen und ihrer Klangmittel. In sechs musikalischen Teams kombiniert Berio je eine Schülergruppe mit einem oder zwei professionellen Musiker*innen. Das Instrumentarium der Kinder beschränkt sich dabei auf die eigene Stimme, einige gestimmte und ungestimmte Schlaginstrumente sowie je ein Keyboard. Die zugeordneten Musiker*innen spielen einen auskomponierten Instrumentalpart und übernehmen zugleich die musikalische Leitung ihrer Gruppe. Die Gesamtleitung liegt bei einer Dirigentin/einem Dirigenten, die/der den Zeitverlauf und die Dynamik des präzise ausnotierten Stücks kontrolliert. Eine rund zweiminütige Traumsequenz im letzten Drittel des Stücks bietet den Kindern Raum, mit dem musikalischen Material des Stücks zu improvisieren.
Wie der Untertitel deutlich macht, hat Berio sein Werk als „Theater ohne Worte“ konzipiert. Inspirieren ließ er sich dabei – wie in vielen anderen Kompositionen – von Kunst- und Popularmusik, Pantomime und Zirkus, aber auch von seinen Erfahrungen mit elektronischer Musik. In einer Art musikalischem Straßentheater, das auf einer imaginären italienischen Piazza angesiedelt sein könnte, erleben wir unterschiedlichste Ereignisse aus verschiedenen Hörperspektiven. Dabei wird nicht nur gesungen und auf Instrumenten gespielt, sondern auch geschrien und geflüstert, gelacht und geschluchzt, geklatscht, imitiert und nachgeäfft. Außerdem kommt es im Lauf des Stücks zu mehreren überraschenden Auftritten. Nach ungefähr acht Minuten erscheint plötzlich eine Stageband, fesselt die Kinder mit ihrem virtuosen Spiel und provoziert bei ihnen unterschiedliche emotionale Reaktionen. Etwas später betritt ein Schauspieler die Bühne und versucht mit „sinnlosen, aber suggestiven Lauten“, die Aufmerksamkeit die Kinder zu erheischen. Anschließen wendet er sich dem Saal zu und animiert das Publikum, Teil des musikalischen Geschehens zu werden und leise einen Ton mitzusummen.
Der Werktitel „Twice upon“ ist wie bei vielen anderen Kompositionen Berios zugleich suggestiv und mehrdeutig. Als Variation des Einleitungssatzes zahlloser Märchen „Once upon a time…“ („Es war einmal…“) spielt er auf den erzählerischen Charakter und die theatralische Dimension des Stücks an. Zugleich verweist er darauf, dass einige musikalische Elemente im Werkverlauf zweimal erscheint.
Aus heutiger Sicht ist es erstaunlich, dass Berios ungewöhnliches Werk nach der erfolgreichen Uraufführung nahezu in Vergessenheit geriet. Erst Anfang 2019 fand in der Philharmonie de Paris die zweite Aufführung von Twice upon… mit Kindern aus Pariser Grundschulen, Mitgliedern des Ensemble Intercontemporain und dem Dirigenten Jens McManama statt. Die beteiligten Musiker*innen wurden von Richard McNicol beratend unterstützt. Der renommierte Musikvermittler ist dem Education-Programm des Klavier-Festivals Ruhr seit seiner Gründung im Jahr 2006 als Mentor eng verbunden. Eine Mercator Fellowship ermöglichte ihm, in Zusammenarbeit mit dem Festival und dem Centro Studi Luciano Berio eine kritische Ausgabe von Twice upon… zu erarbeiten, die im Ricordi Verlag erscheint. Außerdem sind pädagogische Materialien entstanden, die im Rahmen der deutschen Produktion erprobt und weiterentwickelt worden sind.
Tobias Bleek
Die deutsche Erstaufführung von „Twice upon…“ fand am 4. April 2022 im Rahmen eines deutsch-französischen Kooperationsprojekts statt. Dahinter steht die Idee, die besondere Anlage des Stücks für den interkulturellen Austausch fruchtbar zu machen.
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