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Zeit für Busoni

Warum die Musik dieses Komponisten uns heute erfasst und berührt

Als sich Europa ins Gemetzel des ersten Weltkriegs stürzte, gehörte der Komponist und Pianist Ferruccio Busoni zu den wenigen Intellektuellen, die sich nicht anstecken ließen von dem patriotischen Taumel. Aber was konnte er tun, als Individuum und ins Exil verbannt? Was bleibtaußer ratloser Ohnmachtangesichts des galoppierenden Irrsinns der Zeitläufte?

Busoni war seiner Zeit voraus. Er war kein Nationalist, sondern Futurist und Historist zugleich. Er dachte europäisch. Und lebte auch danach. Geboren in Empoli in der Toskana, aufgewachsen in Triest und Paris, ließ er sich nach Lehr- und Wanderjahren in Wien, Graz, Leipzig, Helsinki, Moskau und Boston mit 38 Jahren in Berlin nieder. Von diesem Zeitpunkt an verfasste Busoni all seine Schriften, auch private Briefe, auf deutsch. Behielt aber seinen italienischen Pass. Weshalb er, als Italien 1915 mobil machte, zu einem „unerwünschten Ausländer“ erklärt wurde.

Busoni floh mit Frau und Kindern in die neutrale Schweiz. Im November 1916 schreibt er aus Zürich an Freund Arnold Schönberg, es gelte, „auf den Frieden hin in dem Sinne zu arbeiten, dass wir im Ergebnis unser Schaffen gegen des Anderen Zerstörung stellen können! Das Bleibende gegen das Zerfallende!“ Hohes Pathos spricht aus diesen Worten. Aber auch Naivität. Busoni glaubte, dass seine Werke weiterleben, ja, dass sie ihn überleben würden. Das war, bis heute, nur ausnahmsweise der Fall.

Gewiß, sein „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ ist zum Klassiker geworden, und die Busoniforschung schreitet voran. Auch die Diskographie wächst, besonders die seiner Bachtranskriptionen. Doch wo sind Busonis Werke im Konzertleben präsent? Die virtuosen Arrangements, zum Beispiel, dienen in Klavierrecitals als Aufwärmstücke oder Zugaben. Spektakuläres wie die „Fantasia contrappuntistica“ hat zwar einen festen Platz auf Spezialfestivals für Klavier-Verrückte. Die aufwendigeren Orchesterstücke und die Opern aber stehen am äußersten Rand des laufenden Musikbetriebs, im Zwielicht. Busonis Musik ist, wie sie es bereits für seine eignen Zeitgenossen war, immer noch exterritorial: seine Zeit sei „noch nicht gekommen“, so sagte es vor zwanzig Jahren, auf einem Symposium aus Anlaß des 80.Todestages, Marco Vincenzi, Direktor des Busoni-Zentrums in Empoli. Er nannte ihn: „Busoni, der Unaktuelle.“ Dazu eine passende Anekdote: 1966 hörte Joachim Kaiser in einem Jubiläumskonzert aus Anlass von Busonis hundertstem Geburtstag erst- und einmalig dessen Klavierkonzert op. 39. Fand es zu lang, außerdem epigonal und langweilig. Kaiser erklärte, Busoni sei „in erschreckendem Maße von allem Formsinn“ verlassen. Dieser Verriss prägt bis heute selbst den Wikipedia-Artikel. Und das, obgleich doch der britische Pianist John Ogdon dieses grenzensprengende, melodienselige Riesenwerk just 1967 eingespielt hatte, mit dem Royal Philharmonic Orchestra, für die EMI.

Es war dies damals ein Durchbruch für die Busonirezeption. Eine preisgekrönte, mehrfach neu aufgelegte Schallplatte, sie bewies: Auch Kritiker können irren. Und sie erreichte: Dieser visionäre Wurf einer symphonischen Dichtung in C-Dur mit obligatem Klavier in fünf Sätzen, streng architektonisch durchstrukturiert und überwältigend melodienselig, ist seither viel gefragt. Neun weitere Aufnahmen stehen inzwischen im Katalog, mit namhaften Interpreten – unter anderem Marc-André Hamelin und Kirill Gerstein. Hamelin spielt das Klavierkonzert im Rahmen des Festival-Schwerpunkts ‚Zeit für Busoni‘ in Wuppertal, Gerstein gibt im Salzlager auf Zollverein eines seiner beliebten „lecture recitals“ über Busoni und paart seine Musik mit Franz Liszts Transzendentalen Etüden.

Der erste Weltkrieg wurde zur Zäsur in Busonis Schaffen. Zuvor auf dem Höhepunkt seiner Kreativität, war er, als er nach Hause zurückkehren durfte, gebrochen. Sein Opus Summum, die „Faust“-Oper, hat er nicht mehr vollenden können. Aber was für großartige, verdichtete, teils polytonale Stücke waren entstanden in den Jahren vor dem Krieg! Mit diesen Musiken wagte er sich am weitesten vor in die Moderne. So verzichtet er 1913 in seiner „Sonatina Seconda“ komplett auf Vorzeichen und auch weitestgehend auf Taktstriche. Doch dann wandte Busoni sich konsequent noch einmal seinem gewagten Experiment zu, Bachs „Kunst der Fuge“ zu vollenden. 1912 hatte er damit begonnen und nahm dann 1921 die Arbeit daran wieder auf. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, die ihn selbst nie so ganz überzeugt hatten, fand er die Lösung seiner „Fantasia Contrappuntistica“, in einer Fassung für zwei Klaviere. Und nicht nur das: Busoni war so begeistert von dem Ergebnis, dass er selbst ein Programm um das Stück herum entwickelte.

Dieser Fund seines „wie eine Sonate“ konzipierten Programmes vom Juni 1922 mit Bearbeitungen einiger Werke von Mozart hat das Klavierduo GrauSchumacher geradezu elektrisiert. Und so verbeugen sich die beiden Pianisten in ihrer Aufführung mit größter Leidenschaft vor dem Visionär Busoni, der in seiner Fantasia in der allerhöchsten Kunst des barocken Genies den Bogen zur Gegenwart findet und daraus die Utopie einer Resonanz der Zukunft entwickelt. Wenn das Klavierduo das Programm im Salzlager der Zeche Zollverein aufführt, wird die Aufmerksamkeit der Hörenden ganz subtil durch die Dauerinstallation „The Palace of Projects“ von Ilya und Emilia Kabakov auf die magische Architektur der Musik gelenkt. GrauSchumacher machen Strukturen transparent und geben der Musik einen großen Atem. Und je tiefer man sich von der Leichtigkeit ihrer technischen Virtuosität und der magischen Poesie der Pianisten in diesen Kosmos hineinziehen lässt, um so filigraner und mitreißender wird dieses vom Geist Mozarts und Bachs erfüllte Opus. Im Idealfall verlieren Zeit und Raum ihre Grenzen und man erlebt eine von Busoni existenziell herbeigesehnte neue Freiheit.

Dr. Eleonore Büning/Margarete Zander


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