Bruce Liu sitzt an einem Flügel ohne Tasten und lässt seine Finger in rasender Geschwindigkeit über das blanke Holz flitzen, während dazu bei diesem Reel aus dem off Chopins „Winter Wind“ Etüde op. 25 Nr. 11 erklingt. An diesem Stück habe er sich beim Üben als Jugendlicher die Zähne ausgebissen, schreibt Liu dazu. Manchmal sei es eben besser, ohne Tastatur zu üben und sich die Musik einfach vorzustellen. Humor hat er, so viel steht fest! Und ein Körnchen Wahrheit steckt auch drin, denn die Musik entsteht für Bruce Liu in erster Linie im Kopf und nicht in den Fingern. Egal wie schnell seine Hände sich über die Tasten bewegen, wie zielsicher er Akkorde in atemberaubendem Tempo trifft: immer sitzt jedes Detail. Alle Klangfarben und dynamischen Abstufungen hat Liu permanent bis auf die letzte Schattierung unter Kontrolle.

Das findet 2021 auch die Jury des renommierten Chopin Wettbewerbs in Warschau. Doch fast verpasst Bruce Liu seinen Triumph, weil er nach einer der ersten Wettbewerbsrunden so frustriert ist, dass er seine Koffer packen und abreisen will. Glücklicherweise überlegt er es sich anders und bleibt bis zum Finale: am Ende gewinnt Bruce Liu den ersten Preis beim Chopin Wettbewerb!

Zu dieser Zeit ist er noch Student, ein Management hat er nicht und auf den Gewinn eines so renommierten Wettbewerbs ist er überhaupt nicht vorbereitet. Über Nacht verändert sich das Leben des damals 24-jährigen Bruce Liu vollständig, denn die Agenten und Konzertveranstalter reißen sich fortan um den jungen Pianisten.

Zu Hause ist der Kanadier mit chinesischen Wurzeln in Montreal, aber inzwischen quasi ununterbrochen auf Tour. Wenn es doch Mal kleine Lücken in seinem prall gefüllten Kalender gibt, dann entspannt sich Bruce Liu besonders gerne beim Kartfahren. Der Geschwindigkeitsrausch im Miniflitzer und das Fingerspitzengefühl beim Lenken: gar nicht so anders als am Klavier!

Als großen Vorteil des vielen Reisens als Musiker empfindet der Pianist es, die Esskulturen weltweit kennenzulernen. Er probiert sich gerne durch die lokalen Spezialitäten und lässt sich auch nicht abschrecken, wenn‘s mal sehr ungewöhnlich schmeckt. Diese Offenheit und Neugier spiegeln sich auch in seinem Klavierspiel wider. Bei jedem Auftritt versucht Bruce Liu, neue Facetten in einem Werk für sich zu entdecken und lässt sich von seinen Emotionen, von seiner jeweiligen Stimmung leiten. Genauso offen ist er auch, wenn es um das Kennenlernen eines neuen Orchesters geht: wie „Speed-Dating“ sei das, sagt er scherzhaft Mal in einem Interview. Bei seinem Konzert in der Historischen Stadthalle Wuppertal trifft Bruce Liu sich zum „Date“ mit dem WDR Sinfonieorchester. Dass es funkt, dafür sorgt Maurice Ravels G-Dur Klavierkonzert, das den jungen Pianisten und das Orchester gleich zu Beginn mit einem Peitschenknall in ein glitzerndes Klangmeer schickt: mal tänzerisch beschwingt, mal jazzig groovend, dann wieder fließend und strahlend. In jedem Fall eine abenteuerliche Reise voll aufregender Klangerlebnisse!