Kirill Gerstein

An Kirill Gerstein ist ein Wanderführer verloren gegangen. Die Ruhe, die dieser bärtige, große Mann ausstrahlt, würde selbst die ängstlichsten Spaziergänger dazu bewegen, mit ihm einen Dreitausender zu besteigen.

Vielleicht hat er in einem früheren Leben am Berg geübt, was er jetzt perfekt auf der Bühne beherrscht: Angstfrei erklimmt er nahezu alle Gipfel der Klaviermusik. Je nach Repertoire wählt der Pianist die passenden Routen durch das Notendickicht, kennt jede Weggabelung mit Namen und weiß, wo erfrischende Quellen zu finden sind. Grenzen scheinen ihn dabei nicht zu kümmern. „Ich denke, wir können uns darauf einigen, dass klassische Musik ein schrecklicher Begriff ist“, sagt Gerstein. Als er den Gilmore Young Artist Award gewann, nahm er das Preisgeld, um Werke beim britischen Komponisten Oliver Knussen sowie den Jazz-Größen Chick Corea und Brad Mehldau in Auftrag zu geben. Mit letzterem wird er sich in Essen einen jazzigen Schlagabtausch der Extraklasse liefern. Und auch die “Rhapsody in Blue“ spielt er so lässig und leichtfüßig wie kein anderer Pianist.

Gerstein ist immer auf der Suche nach Neuland. Er liest, schreibt, sein weiter Horizont umfasst alle Kunstrichtungen. Auf seiner Homepage sammelt er Reflexionen zu seinen Projekten und veröffentlicht philosophisch angehauchte Artikel zu Komponisten. Als die Pandemie das normale Leben lahmlegte, startete er eine Videoreihe mit dem Titel “Kirill Gerstein invites”. Jede Woche lud er eine bekannte Persönlichkeit ein, auf seinem YouTube-Kanal ein Seminar mit anschließender Diskussion zu geben – darunter Musikerinnen und Komponisten, aber auch ein Architekt, die Choreografin Sasha Waltz und der Konzeptkünstler Ai Weiwei. Bis heute existiert die Videoreihe, in der Gerstein zwar Interviews führt, sich aber hauptsächlich um die Kommentare kümmert, die aus aller Welt auf dem Kanal eintrudeln. Es wirkt fast so, als sei es ihm ganz recht, anderen die Bühne zu überlassen.

Nach Allüren sucht man bei Kirill Gerstein vergebens. Dabei hätte der Musiker allen Grund dazu: Er erhielt den Preis des Arthur-Rubinstein-Wettbewerbs, der Avery Fisher Career Grant und die Ehrendoktorwürde für Musik von der Manhattan School of Music. Die Süddeutsche Zeitung zählt ihn “zu den vielseitigsten und reflektiertesten Pianisten der Gegenwart”, der britische Telegraph nennt ihn den “flexibelsten aller Klaviervirtuosen”.

Flexibel, das war Gerstein vielleicht schon von Anfang an – oder er wurde es, angesichts der vielen Umbrüche in seinem Leben. 1979 in Woronesch geboren, wichtiges Zentrum im südlichen Zentralrussland, begann der Sohn eines Mathematiklehrers und einer Musiklehrerin schon mit zwei Jahren Klavier zu spielen. Kurze Zeit später zog er die Jazzplatten seiner Eltern aus dem Schrank. Ausgerechnet bei einem Bach-Wettbewerb in Polen, den er als Zehnjähriger gewann, hörte er zum ersten Mal live gespielten Jazz – und wurde von einer Leidenschaft für die Musikrichtung gepackt, die ihn bis heute nicht mehr losgelassen hat.

Geradezu romanhaft wirkt eine Zufallsbegegnung mit dem Vibraphonisten Gary Burton, der ihm zu einem Stipendium am Berklee College of Music verhalf. Im Alter von 14 Jahren zog Kirill Gerstein nach Boston, studierte klassisches wie Jazz-Klavier und fand eine Heimat in den USA – seit 2003 besitzt er neben der russischen auch die amerikanische Staatsbürgerschaft.

Mit 20 schloss er seine Studien ab und debütierte kurz darauf mit dem Tonhalle-Orchester Zürich – der Startschuss für seine Weltkarriere. Neben der Solistentätigkeit begann er schon früh zu unterrichten, erst als Professor an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart, seit 2018 als Dozent an der Kronberg Academy im Taunus sowie als Professor an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Hier und in Wien gab er Benefizkonzerte für die Ukraine, er war einer der Ersten, die den Angriffskrieg entschieden verurteilten. „Ich bin nicht ganz russisch, nicht ganz amerikanisch, nicht ganz europäisch, nicht ganz jüdisch im religiösen Sinne. Ich fühle mich an vielen Orten wohl“, sagt der heute 44-jährige Pianist.

Seine Heimat ist die Tastatur, wo die Musik nur so aus ihm herausströmt. Diese Wucht, diese Zartheit in den Händen! Die sanften Augen, der wache Blick, das sympathische Schmunzeln – Kirill Gerstein beim Spielen zuzusehen, ist reine Freude. In den verrücktesten Arpeggien und waghalsigsten Girlanden ist er ganz bei sich, sein Wimpernschlag wird dann langsamer, Gerstein ruht im Auge des Sturms. So auch in den zwölf “Études d’exécution transcendante” von Franz Liszt: “Die körperliche Anstrengung der Bewegungen, die Liszts Musik fordert, wird zu etwas sehr Philosophischem und Meditativem, fast wie in der Kampfkunst. Durch das Spielen dieser Stücke erlebt man eine tiefgehende Verwandlung, man ist danach nicht mehr derselbe Pianist wie am Anfang der Reise”, sagt er über das Werk und zaubert Irrlichter und Geister aus den Noten hervor. “Stücke sind unglaubliche Geschöpfe, sie sind das Interessanteste, was es gibt.”

Beim Klavier-Festival Ruhr präsentiert er auch Werke des Liszt-Schülers Ferruccio Busoni, dessen Biographie Gerstein im Alter von zehn Jahren in die Hände fiel. Seither sei er besessen von diesem Komponisten und Pianisten, er lese all seine Briefe und Schriften, höre unentwegt seine Aufnahmen. Als Spezialist für dessen Werk kuratierte er in der Wigmore Hall in London eine dreiteilige Konzertreihe mit dem Titel “Busoni and His World”.

Über den italienischen Komponisten gibt es einen kurzen Text des Autors Stefan Zweig, die beiden waren Freunde. Er schreibt, dass er von allen Pianisten Busoni am meisten liebe. Und warum? Andere würden schaufeln, graben oder an der Tastatur herum donnern. “Er aber, Busoni, lauscht. Er lauscht sich selber im Spiel. Eine unendliche Ferne scheint dann zwischen den geisternden Händen da unten, die in Tönen wühlen, und dem erhobenen Antlitz voll seliger Entrücktheit […]. Unten ist Musik, oben Stille, unten das Schaffen, oben das Genießen.” Auch, wenn es der bescheidene Kirill Gerstein niemals zuließe: Diese Beschreibung könnte man eins zu eins auf ihn anwenden.

Marie König

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Mittwoch, 04. Juni 2025 | 20:00 Uhr
Essen  Folkwang Universität der Künste

€ 45 | 35 | 25

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